Ein neuer „Typ“ der Bachforelle – oder: „Haben wir richtig hingesehen?“

Ichthyologie ist die Wissenschaft der Fische. Wie die meisten Disziplinen der klassischen Biologie gründet sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit dem Aufkommen einer anwendbaren Systematik und der binominalen Nomenklatur ging der „Run“ auf die Arten los: jeder, der ein großer Ichthyologe werden wollte, beschrieb eine Vielzahl von Fischen. Die mitteleuropäischen Süßwasserfische galten bald als abgegrast, so dass sich spätere Ichthyologen anderen Gebieten in der Welt zuwandten.
Die Ichthyologie ist in den Tropen groß geworden

Im Ernst: in tropischen Gewässern, die das ganze Jahr über schön warm sind, macht das Fischen mit Zugnetz und Kescher natürlich viel mehr Spaß*, als in eiskaltem Wasser europäischer Bergseen. Das führte dazu, dass die spezielle Zoologie (also die Zoologie, die sich mit den einzelnen Arten beschäftigt) die Süßwasserfische Mitteleuropas ignorierte. Für die Arbeit in den Tropen wurden die Instrumente und der Blick geschärft, die Verhaltensbiologie kam ebenso dazu wie die Ökologie und natürlich die Genetik. Die viel genaueren Untersuchungen führ(t)en zu einer sehr genauen Unterscheidung von Arten und damit zu einer – im Vergleich zu Europa- ungeheuren Artenzahl.
Tropische Methoden in Europa
Folgerichtig werden diese neuen Methoden auch an den europäischen Fischen angewandt. Zu den ersten Fischen, die so etwas über sich ergehen lassen mussten, gehörte die Gruppe der Coregonen. Diese Tiere leben in den glazial geprägten Gegenden Europas, Sibiriens und Nordamerikas. Größere Arten sind als Renken oder Maränen bekannt. Sie sind mit den Lachsartigen verwandt.

Bei den Coregonen sind zahlreiche „Ökotypen“ bekannt, die parallel in unterschiedlichen Seen vorkommen. Es gibt nahezu immer Planktonfresser, in einigen Seen auch Räuber, Tiefwasserformen und Benthosfresser. Früher ging die Wissenschaft davon aus, dass ähnliche Fische unterschiedlicher Seen auch der gleichen Art angehören. Mittlerweile ist man der Ansicht, dass die langjährige Isolation der Seen eine Artbildung ermöglicht. Es gibt bereits echte Arten, aber auch unterschiedliche Ökotypen einer Art, die sich nicht unbedingt ähneln. Die ganze Systematik wird seit kurzem untersucht und ist noch „im Fluss“.

Eine andere Entdeckung solcher Arbeiten ist der erst 2010 beschriebene Ammersee-Kaulbarsch. Bisher ist er nur aus dem Ammersee bekannt und unterscheidet sich optisch und genetisch vom Kaulbarsch und dem nahe verwandten Donaukaulbarsch.
Auch beim alltäglichsten Fisch Mitteleuropas, dem Dreistacheligen Stichling ist eine Spezialisierung in vielerlei Hinsicht zu beobachten. In einigen Fällen sind die Formen bereits deutlich zu unterscheiden.
Was machen die Salmoniden…
Insbesondere bei den Saiblingen ist eine große Variationsbreite bekannt. Sie bilden aufgrund der natürlichen Isolation in zahlreichen Seen Stämme, die sich durch ihre Färbung unterscheiden. Doch die genetische Vielfalt ist wesentlich größer. Es gibt großwerdende Arten, die über 10 kg erreichen, aber auch kleinbleibende Tiere, Tiefseeformen und Arten mit großer Variationsbreite. So können die „gewöhnlichen“ Seesaiblinge in nährstoffarmen Seen schon bei einer Länge von 16 cm und 33 g geschlechtsreif werden.
Da liegt es nahe, sich die Forellen der Gattung Salmo einmal genauer anzusehen. Eines der am stärksten zersplitterten Verbreitungsgebiete der Forellen sind die schottischen und irischen Seen. Natürlich kommen zwei Salmo-„Superspezies“ in Schottland und Irland vor: Die Bachforelle und der Atlantische Lachs. Letzterer ist hier uninteressant. Aber die -an sich schon sehr plastische- Bachforelle hat in Schottland und Irland mehr als die bekannten drei Formen „Bachforelle“, „Seeforelle“ und „Meerforelle“ ausgebildet.
… im Lough Melvin?
Der See Lough Melvin liegt im Norden Irlands und ist ziemlich gut untersucht. Er beherbergt zwei endemische Forellenarten. Beide sind aus der Bachforelle entstanden. Die Flachwasserform Salmo stomachicus ist auf Schnecken und Köcherfliegenlarven als Nahrung spezialisiert und nimmt nur selten andere Organismen zu sich. Die zweite endemische Art ist die Tiefwasserform Salmo nigripinnis. Sie lebt im tiefen Freiwasser und ernährt sich von feinem Plankton wie Wasserflöhen und Mückenlarven.
Eine dritte Art, die Feroxforelle hingegen ist eine große Freiwasserart, die hauptsächlich Fische frisst. Sie kommt im Lough Melvin vor, ist aber nicht endemisch. Als vierte und letzte Art sind Bachforellen wieder sekundär eingewandert, möglicherweise auch „mit Hilfe des Menschen“.
Alle vier Arten sind eindeutig zu unterscheiden.
Die neue Entdeckung in Schottland
Die Lage von Loch Laidon in Schottland
Vor diesem Hintergrund ist die Entdeckung, die die BBC vor einigen Tagen publizierte, nicht so ungewöhnlich. Das College in Inverness hat die Forellen des Loch Laidon untersucht. Laidon ist ein relativ kleiner Loch (etwa 8 km x 800 m groß) im Süden der Highlands. Hierbei haben sie vier Ökotypen, möglicherweise eigene Arten der Bachforellenverwandtschaft festgestellt:
Vier Ökotypen
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Ökotyp Open water surface feeder. Foto: Inverness College „Open water surface feeder“: die kleinste Form hat die typische Forellengestalt und zahlreiche mit hellem Kontrastring umschlossene dunkle Flecken. Wie der Name besagt, lebt sie im offenen Wasser und frisst überwiegend Anflugnahrung.
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Ökotyp Shore line / shallo bottom feeder. Foto: Inverness College Etwas größer ist die Form „shore line / shallow bottom feeder“: Der ufernahe Bodenfresser (so die Übersetzung des Namens) wird etwas größer und deutlich massiger. Das Maul ist relativ klein und endet etwa auf Höhe des Hinterrandes der Augen. Sie ist wesentlich weniger stark gepunktet.
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Ökotyp Deep water bottom feeder. Foto: Inverness College Bisher einzigartig ist der „deep water bottom feeder“, der Tiefwasser-Bodenfresser. Er unterscheidet sich deutlich von den anderen Formen: große Augen und ein tief gespaltenes Maul zeichnen den Kopf. Der Körper ist eher blass und kontrastarm, die wenigen Flecke sind eher rötlich als schwarz.
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Ökotyp Wide ranging fish eater. Foto: Inverness College Die größte Form ist der „wide ranging fish eater“ mit über 30 cm. Mit einem tief gespaltenem Maul, kaum gekerbter Schwanzflosse wirkt sie auch wie ein freischwimmender Fischfresser. Sie trägt kleine schwarze Punkte ohne Kontrastring. Möglicherweise ist sie mit der Feroxforelle identisch, mit Sicherheit aber ein ähnlicher Ökotyp.
Nur die Spitze des Eisberges der Biodiversität?
Die Studie, die von Prof. Eric Verspoor geleitet wurde, zeigt deutliche genetische Unterschiede zwischen den Formen. Forellen haben sich also in diesem gerade 12.000 Jahre alten See bereits in vier Formen aufgespalten. Besonders der Tiefwasser-Bodenfresser ist einzigartig und aus keinem anderen See beschrieben worden. Er bewohnt tiefes, dunkles Wasser, durch das kaum Licht fällt und ernährt sich von Bodentieren.
Verspoor hierzu: „Das ist im Grunde eine klar abzugrenzende Art der Bachforelle, über die noch nie berichtet wurde. Die Zahl der Formen im Loch Laidon ist so groß wie in keinem anderen einzelnen See.“
Die Untersuchung legt eine wesentlich höhere Diversität nahe, als in den schottischen Seen bisher erwartet wurde. „Tatsächlich“, so Verspoor, „wurden viele Seen der Nordhalbkugel massiv unterschätzt. Die Befunde aus dem Loch Laidon könnten nur die Spitze eines Eisbergs der Biodiversität in schottischen und anderen nordischen Seen sein. Die wirkliche Größe des Eisbergs wird erst deutlich, wenn wir mehr Seen mit unseren Methoden untersuchen.“ (Übersetzung: Verfasser).
Anmerkung meinerseits:
Wie schon bemerkt, sind Salmoniden sehr anpassungsfähig und offenbar „schnell“ in der Lage, Ökotypen und schließlich Arten hervorzubringen. Wenn die nur 12.000 Jahre seit der letzten Eiszeit und ein relativ kleiner Loch wie Laidon ausreichen, was ist in anderen Seen passiert?
Die besonders auffällige Form der Untersuchung, den Tiefwasser-Bodenfisch wird man in vielen Lochs selten zu Gesicht bekommen habe. Kein Wunder: er schwimmt nicht in Kiemennetze und beißt nicht auf Köder, die nicht auf dem Boden liegen. Die wirtschaftlich interessanten Arten schwimmen in den oberen Teilen der Wassersäule, das Tiefwasser wird nicht befischt. Ich wage sogar zu behaupten, dass außer in Loch Ness noch kein Mensch den Seeboden unterhalb von 60 m Wassertiefe gesehen hat.
Wenn schon so ein kleiner Loch wie Laidon vier Forellenarten evoluieren kann, was können dann größere Seen? Sind Loch Morar, Loch Lomond, Loch Ness oder Loch Tay Evolutionszentren für weitere Arten? Oder sind kleinere Seen aufgrund der kleineren Populationen eher die Hotspots der Artenbildung, weil kleinere Populationen schneller reagieren können?
In Schottland gibt es nach Auskunft der National Library of Scotland immerhin 562 Lochs, dazu kleinere Seen, die als Lochan oder Lochy bezeichnet werden. Da könnte noch einiges entdeckt werden – oder auch nicht.
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* Spaß wird in diesem Zusammenhang eher relativ zu sehen sein. Reisen in die Tropen im 18. und 19. Jahrhundert waren beschwerlich. Oft konnte das notwendige Material zwar mit einem Schiff in die Nähe des Forschungsraumes gebracht werden. Dann brauchte es aber viele, teure Träger, die Kisten mit der Expeditions- wie der wissenschaftlichen Ausrüstung ins Hinterland bringen konnten. Dazu kamen unbekannte Tropenkrankheiten, bakterielle oder virale Infektionen, Parasiten und nicht zuletzt eine Unzahl von unbekannten Tieren. Antibiotika gab es nicht, gegen Malaria half mit etwas Glück das Chinin, gegen vieles andere hatte man schlicht: nichts.
Menschen wie Louis Agassiz, Marcus Elieser Bloch, George Cuvier, Alexander von Humboldt, Franz Steindachner, Achille Valenciennes und viele andere haben heute kaum vorstellbare Abenteuer und Strapazen erlebt.
Danke an Markus Bühler für den Hinweis auf den Artikel der BBC. Markus befasst sich schon länger mit Tiefwasserformen der europäischen Coregonen und Salmoniden. Wir sind beide der Meinung, hier ist noch einiges zu erwarten.