Die Kraniche kommen!

Der Graukranich oder einfach nur Kranich (Grus grus) ist einer der größten Vögel Mitteleuropas. Seit je her waren die Menschen von der Schönheit der Tiere und ihren bemerkenswerten Balztänzen fasziniert. Bei den alten Ägyptern galt er als Sonnenvogel und wurde oft den Göttern geopfert, aber auch als Wild gegessen. Den Griechen galten Kraniche als Vögel des Glücks, sie haben die Tiere mit unterschiedlichen Göttern verbunden.
Bei uns im Rhein-Ruhr-Gebiet gibt es keine Kraniche – zumindest an etwa 350 Tagen im Jahr nicht. Gelegentlich rasten einzelne Tiere am Niederrhein oder kommen von den Niederlanden auf einen Ausflug vorbei. Im Kreis Minden-Lübbecke haben vor einigen Jahren ein bis zwei Einzelpaare gebrütet.
Durchzieher, zweimal im Jahr
Doch zweimal im Jahr wimmelt es nur so von Kranichen. Sowohl der Garten bei meinen Eltern, als auch meine Wohnung in Bochum liegen auf dem westlichen Zugweg der Kraniche. Fast jedes Jahr im Frühling und im Herbst können wir an mehreren Tagen große Formationen dieser tollen Vögel beobachten. Meist hört man ihre lauten, trompetenden Rufe von weitem. Dann ist es Zeit, die Kamera schussklar zu machen und sich ins Freie zu begeben. Schon bald kann man dann die strengen V-Formationen der Kraniche irgendwo am Himmel entdecken. Interessanterweise ist es oft so, dass in Leichlingen (bei meinen Eltern) binnen kurzer Zeit mehrere, kleinere Zuggruppen auftauchen. In Bochum habe ich bisher immer nur einzelne, dafür deutlich größere Gruppen beobachten können.
Sie nutzen die Hang-Aufwinde
Leichlingen liegt am Fuß des Bergischen Landes. Der Garten meiner Eltern liegt fast genau dort, wo der erste Höhenzug dieses Mittelgebirges beginnt: Unterhalb des Hauses ist es mehr oder weniger flach (ca. 70 m über NN), oberhalb liegt die erste Höhenstufe mit 130 m, später 250 m über NN. Die ersten 60 m hiervon sind ziemlich steil, so dass regelmäßig Hang-Aufwinde entstehen. Der Höhenzug verläuft hier mehr oder weniger in Nord-Nordost nach Süd-Südwest. Die Kraniche ziehen mehr oder weniger rechtwinkelig, im Frühjahr aus Südwesten nach Nordosten. Im Herbst kommen sie aus Nordosten.
Die Kraniche scheinen den Hangaufwind zu kennen. Sie kommen in vergleichsweise niedriger Höhe rein, so niedrig, dass man die grau-weiß-schwarze Zeichnung der Vögel mit dem bloßen Auge gut erkennen kann. Sobald sie den Aufwind erreicht haben, lösen sie ihre Flugformation auf. Wie Greifvögel kreisen sie individuell in den aufsteigenden Luftmassen. Sobald sie eine Höhe erreicht haben, in der der Aufwind nicht mehr ausreichend trägt, formieren sie sich wieder und fliegen in V-Formation weiter. Ich konnte die Tiere hier meist am mittleren Nachmittag, zwischen 14 und 16 Uhr beobachten.
In Bochum
In Bochum habe ich das noch nicht beobachten können. Die Wanderformationen hier kommen im Frühling ebenfalls aus Südwesten und ziehen nach Nordosten weiter. Möglicherweise nutzen sie die weithin sichtbare Halde Rheinelbe mit der Betonskulptur „Himmelstreppe“ als Landmarke. Sie ziehen hier in größerer Höhe und scheinen diese auch zu halten. Alle Beobachtungen fanden zwischen 17 und 18 Uhr statt.
Schaut man sich nun die beiden Orte auf einer Karte an, so stellt man fest, dass sie offenbar in der selben Zugrichtung liegen. Möglicherweise werden sie sogar von den selben Formationen überflogen. Auch die Beobachtungszeiten deuten darauf hin: In der Luftlinie liegen beide Orte etwa 43 km von einander entfernt, laut Wikipedia erreichen sie beim Zug eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 45 bis 65 km/h. Sie müssten die Strecke zwischen den Orten in etwa einer Stunde zurücklegen.
Was ich nicht selber beobachten konnte
Die Kraniche, die über Nordrhein-Westfalen ziehen, gehören dem westeuropäischen Zugweg an. Sie brüten hauptsächlich in Schweden, Norwegen und möglicherweise auch Nordfinnland. Etwa Mitte August erreichen größere Rastgruppen Deutschland in Vorpommern, bevorzugt auf der Insel Rügen. Weitere Sammelplätze gibt es im Torun-Eberswalder Urstromtal, nördlich von Berlin und in der Lausitz. Unter den Vogelbeobachtern ist die Talsperre Kelbra, südlich des Harzes, bekannt.
Die verschiedenen Zugkontingente dieser Sammelorte vereinigen sich an verschiedenen Rastplätzen westlich des Rheins. Von dort aus ziehen die Tiere dann südwestwärts (über Leichlingen hinweg). Sie ziehen dann weiter über das Rhein-Main-Gebiet bis nach Frankreich. Bekannte Rastregionen liegen dort bei Orleans, in der feuchten Champagne sowie im Südwesten des Landes. Die Pyrenäen und das Baskenland überfliegen die Kraniche in der Nacht. Ein wichtiger Sammelpunkt in Spanien ist die Laguna de Gallocanta in der Provinz Saragossa. Von hier aus verteilen sich die Tiere in die Überwinterungsgebiete in der Extremadura und Andalusien. Einige ziehen sogar weiter nach Nordafrika. Seit einigen Jahren überwintern immer mehr Kraniche im Südwesten Frankreich, in den Wäldern und Heiden der Les Landes. Im Frühjahr ziehen sie den selben Weg zurück, nutzen sogar oft die selben Rastplätze.
Die Zahl der Kraniche nimmt zu!
Haben Anfang der 1980er Jahre noch maximal 40.000 Tiere diese Route genutzt, waren es 1990 bereits 60.000 und 2001 etwa 150.000 Kraniche. Neuere Daten zu diesem Zugweg konnte ich nicht finden. Durch die zunehmend milderen Winter überwintern viele Kraniche weiter im Norden. Haben vor 40 Jahren vielleicht 5.000 Kraniche überwintert, sind es jetzt 100.000.
In Deutschland überwintern derzeit etwa 20.000 Kraniche. Hilfreich ist auch der Maisanbau: Kraniche als Allesfresser fressen im Winter sehr gerne die energiereichen Maiskörner, die bei der Ernte oft auf den Feldern bleiben. In der Extremadura und in Andalusien hingegen fressen sie vor allem die Samen der Steineiche, für deren Ausbreitung sie auf diese Weise sorgen. In vielen Rastgebieten organisieren Behörden und Naturschützer Ablenkungsfütterungen mit Mais und anderen Futtersorgen. So kann recht gut verhindert werden, dass die Kraniche Saatgut von frisch bestellten Äckern klauben.
Ich freue mich darüber, denn die weithin schallenden Trompetenrufe der Kraniche und die beeindruckenden V-Formationen der großen Vögel sind einer der schönsten Frühlingsboten, die ich kenne.
